Ich habe letztens ein paar Bücher über den Tod gelesen. Ich könnte
behaupten, dass das daran liegt, dass ich im Moment eine Dissertation
über dieses Thema schreibe (oder zumindest schreiben sollte, meistens
lese ich nur irgendwelche belletristischen Bücher). Vielleicht liegt
aber auch das eine so wie das andere daran, dass der Tod mich einfach
interessiert. Wobei das, streng genommen, auch nicht richtig ist:
Eigentlich ist es viel eher so, dass mich der Tod nicht interessiert,
ja, eigentlich habe ich so wenig Interesse am Tod, dass ich ausdrücklich
dafür plädieren möchte, ihn, zum Beispiel, völlig abzuschaffen.
Dasselbe gilt auch für manche Bücher darüber.
Eins der schlechteren Bücher über den Tod, die ich kürzlich gelesen
habe, ist „Interview mit dem Tod“ von Jürgen Domian, den wir aus der
nach ihm benannten nächtlichen Radiotalkshow kennen, in der er uns
gebetsmühlenartig (und mit leicht fanatischem Unterton) verklickert,
alles sei okay, so lange es niemandem schade. Vielleicht habe ich meinen
Konsum der Talkshow in den letzten Jahren, der eher aus voyeuristischer
Neugier gegenüber den Problemen anderer Leute als aus Sympathien für
den Moderator herrührt, etwas übertrieben; und vielleicht reagiere ich
deswegen gereizt auf von Domian produziertes Gedankengut. Aber selbst,
wenn das so sein sollte, schlecht genug ist das Buch, das eine bunte
Mischung aus biographischen Notizen (in Jugend Hang zu religiösem
Fanatismus, durch Nietzsche und Feuerbach davon geheilt, Vater
gestorben), religiösem Pamphlet (pro Buddhismus) und politisch-ethischer
Meinungsäußerung (pro Palliativmedizin, pro Sterbehilfe) darstellt, in
jedem Fall.
Wie angesichts des Titels seines neuen Werks nicht überrascht,
unternimmt Domian darin den ambitionierten Versuch eines fiktiven
Interviews mit dem personifizierten Tod. Die Interview-Passagen, in
denen der manchmal erschreckend naive Radiomoderator („Es gibt doch zum
Beispiel den eindeutig guten Menschen – und den eindeutig bösen
Menschen!“ (S. 125, der Tod widerspricht hier nicht)) dem Tod wenig
originelle Fragen stellt, wechseln sich ab mit solchen Kapiteln, in
denen Domian seine eigene Auseinandersetzung mit dem Tod (nicht mit
seinem fiktiven Interviewpartnerclown, sondern mit dem echten)
thematisiert.
Eins der besseren Bücher ist Julian Barnes' autobiographisches Buch
„Nothing to be frightened of“ (deutsch „Nichts, was man fürchten
müsste“). Auch Barnes reflektiert seine eigene Auseinandersetzung mit
dem Tod. Diese fällt aber erstens deutlich differenzierter aus; zweitens
gewährt sie eine Vielzahl an philosophischen und literarischen
Einblicken in das Thema, die sowohl von beeindruckender gedanklicher
Klarheit als auch von umfassendem literarischem Wissen zeugen. Nicht
nur, dass diese Streifzüge wahrscheinlich für jeden Leser mit
Todes-Interesse oder -Verachtung – also jedem, dem es nicht nur Angst
macht, ein Buch über den Tod zu lesen – eine Bereicherung darstellen,
wenn sie von Barnes kommen, sind sie auch noch lustig.
Der personifizierte Tod bei Domian ist leider kein bisschen humorvoll,
sondern schwafelt durchweg unangenehm geschwollen daher. So beginnt das
Interview beispielsweise mit den folgenden Worten: „Ich danke dir, Tod,
dass du dir die Zeit nimmst, dich mit mir zu unterhalten.“ Darauf der
Tod: „Für mich gibt es keine Zeit, aber ohne sie gäbe es mich nicht.
Endet die Zeit, endet der Tod. Und Dank ist mir niemand schuldig. Ich
tue nur, was zu tun nötig ist.“ (S. 12) Das klingt zwar gewollt
tiefsinnig, aber informativ ist es leider nicht. Informationen sind aber
das Mindeste, was ich vom Tod in einer solchen Situation erwarten
würde. Wem die Information, dass man dem Tod nicht dankbar sein muss,
irgendwie weiterhilft, der war mit seinen eigenen Überlegungen wohl noch
nicht sehr weit gekommen.
Wenn ich den Tod zu einem Interview treffen würde, würde ich hoffen,
dass er mehr zu bieten hat als ein paar sprachliche Spitzfindigkeiten –
zumindest, wenn er nicht nur gekommen ist, um mich zu veralbern. Was aus
literarischer Perspektive natürlich originell sein könnte, aber darum
geht es Domian augenscheinlich nicht. Vielmehr ist der Tod ausdrücklich,
wie er später selbst zugibt, gekommen, um nichts zu verraten: „Darf ich
fragen, was du nicht weißt?“ Tod: „Fragen darfst du es – aber es gibt
darauf keine Antwort. Man kann mit keinem Menschen über transzendente
Geheimnisse sprechen. So, wie du mit keiner Ameise über Kants
Kategorischen Imperativ reden kannst – selbst, wenn du es wirklich
wollen würdest.“ (S. 124) Seufz.
Von solchen inhaltlichen Problemen (und es gäbe noch einige aufzuzählen)
abgesehen erscheint mir die ganze Idee der Personifizierung des Todes
in hohem Maße befremdlich, sofern es darum gehen soll, sich den großen
existentiellen Fragen des menschlichen Lebens inhaltlich zu nähern und
nicht, sagen wir, darum, ein spannendes oder lustiges Buch zu schreiben (oder einen guten Film zu machen, wie zum Beispiel Interview mit Joe Black) –
das war offensichtlich nicht Domians Absicht. Durch die Vorstellung
eines Personen-Todes werden die Dinge eher noch mehr verwirrt als
geklärt. Wenn überhaupt irgendetwas als gesichert gelten kann, dann doch
wohl dieses: der Tod ist nicht ein Jemand, der Tod ist ein Ereignis
(oder vielleicht ein Zustand), und wenn es überhaupt jemanden gibt, den
man dazu befragen könnte, dann kann das eigentlich nur Gott sein.
Ein Gott mit Humor beziehungsweise Sinn für Ironie ist eine der
Möglichkeiten, die Barnes durchspielt, um sich das „Problem“ des Todes
verständlich zu machen: Ein Experimentator-Gott, der die Menschen mit
ihrem Wunsch nach Unsterblichkeit in eine Sterblichkeitskiste setzt wie
Ratten in einen Käfig, deren potentielle Türen nach außen – die Wege in
die Ewigkeit – sich durchweg als Attrappen erweisen. Leider (oder in
diesem Fall zum Glück?) ist Gott, wenn es ihn gibt, nicht so oder
irgendwie anders, weil wir uns vorstellen oder wünschen, dass er so oder
so ist – wenn es ihn gibt, ist es ihm wahrscheinlich vollkommen
schnuppe, wie sich irgendwer vorstellt, dass er sein könnte. Barnes
stellt dazu fest: „Bei Umfragen zur religiösen Einstellung lautet eine
verbreitete Antwort etwa so: ‚Ich gehe nicht zur Kirche, aber ich habe
meine eigene Vorstellung von Gott.’ Auf solche Aussagen reagiere nun ich
wie ein Philosoph. Sentimentaler Quatsch, rufe ich. Du hast vielleicht
eine eigene Vorstellung von Gott, aber hat Gott auch eine eigene
Vorstellung von dir? Das ist nämlich der springende Punkt.“ (S. 65)
Eine Textstelle, die ich gerne an Domian und seine allnächtlichen
Anrufer weitergeben möchte. Vielleicht hören dann ja alle mal für ein
paar Tage auf, ihre religiöse Individualität zu preisen und sich
gegenseitig mit wirren metaphysischen Auffassungen zuzuquasseln –
natürlich ist es erlaubt, sich „seine eigene Vorstellung“ von
Gott (oder meinetwegen vom personifizierten Tod) zu machen, aber wozu
soll das gut sein? Der Wahrheitsfindung dient es jedenfalls nicht.
Barnes, dessen Bruder Philosophieprofessor ist, erzählt zu Beginn seiner
Ausführungen, wie sein Bruder ihn kritisiert habe dafür, dass er durch
eine Formulierung wie „Mutter hätte sich gewünscht…“ seiner bereits
verstorbenen Mutter posthum Wünsche zuschreibt, die sie zu diesem
Zeitpunkt haben würde, würde sie noch leben. Das sei, so der
Philosophenbruder, quasi doppelt verdächtig: Es sei nicht nur ohnehin
fragewürdig, sich mit potentiellen, also nicht-tatsächlichen Wünschen
anderer zu beschäftigen, sondern umso fragwürdiger, wenn dieser Jemand
auch noch tot sei. (S. 14)
Mich hat das beim Lesen an meine Mutter erinnert, die erst vor ein paar
Tagen sagte, dass es wiederum ihrer Mutter (meiner Großmutter) gefallen
hätte, dass sie (meine Mutter) entgegen aller Vermutungen und
Wahrscheinlichkeiten immer noch in ihrem Haus (dem meiner Großmutter)
lebt. Glücklicherweise (für meine Mutter) sagte sie (meine Mutter)
gleich im Anschluss, dass sie ja zum Glück Überzeugungen habe, die es
ihr ermöglichen, davon auszugehen, dass ihre Mutter (meine Großmutter)
das doch noch irgendwie mitbekommt. Auf Umwegen vielleicht. „Über ein
paar Ecken.“
Ich habe an dieser Stelle wohlweislich verschwiegen, dass ich schon mal
einen Brief (an meine Großmutter) und sogar, noch früher, schon mal
einen an meinen Großvater, mit dem ich nicht eine einzige Minute
gleichzeitigen Lebens teile, auf dem Grab meiner Großeltern vergraben
habe. Ich bin nicht sicher, ob dies tatsächlich in der gruselig-wirren
Hoffnung geschah, die darin enthaltenen Botschaften kämen bei den Toten
irgendwie an (wobei ich ebenfalls nicht sicher bin, ob ich als
Adressaten eher die verwesenden Leichen oder immaterielle Seelen – in
der Erde? – im Sinn hatte). Stattdessen habe ich, wie meine Mutter nicht
anders erwartet hat, in meiner Eigenschaft als Philosophin lieber
darauf hingewiesen, dass meine Mutter hier wider besseres Wissen eine
unsinnige metaphysische Überzeugung vertritt.
Nichtsdestotrotz liegt mir der Gedankengang vom Schriftsteller Barnes in
diesem Fall näher als der des Philosophen Barnes: Die Frage, was
jemand, der jetzt tot ist, gewollt hätte, erscheint mir als eine Frage
von Relevanz.
Auch bei diesem Thema hilft der Domian-Tod nicht weiter. In Bezug auf
mehr oder weniger wirre metaphysische Auffassungen hat er jedoch auch
einiges zu bieten. Gut, könnte man sagen, der Tod kann ja jetzt, wo man
ihn schon mal bei sich sitzen hat, ein für alle mal klären, was die
Wahrheit ist – leider wird nur allzu deutlich, dass es Domians eigene,
wenig befriedigenden buddhistischen (?) Vorstellungen (er hat jetzt
vermutlich seine ganz eigene Vorstellung von Gott) sind, die er seinem
Gesprächspartner in den Mund legt. Ich jedenfalls betrachte es nicht als
sichere Erkenntnis, dass, wie der Tod konstatiert, „das Vergangene
bereits tot“ sei und „[d]as Zukünftige nichts weiter als eine Illusion.“
(S. 12) Domians Fazit zum Thema Religion fällt erwartungsgemäß eher
uninspiriert aus: „Man glaubt daran – oder man lässt es sein. Darüber zu
diskutieren ist sinnlos.“ (S. 101)
Ein paar ganz praktische Anweisungen gibt Domians Quassel-Tod allerdings
doch: Als Trost im Falle verstorbener Angehöriger schlägt er „den Blick
in die Blüte einer Rose“ oder „das Geräusch fallenden Schnees in der
Stille“ (S. 86) vor. Im Trösten ist der Tod wohl nicht besonders gut.
Aber wieso sollte er auch.
Julian Barnes: Nichts, was man fürchten müsste. Kiepenheuer & Witsch, 2010.
Jürgen Domian: Interview mit dem Tod. Gütersloher Verlagshaus, 2012.
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