Donnerstag, 19. Juli 2012

Buchnotizen: Zwei Bücher über den Tod

Ich habe letztens ein paar Bücher über den Tod gelesen. Ich könnte behaupten, dass das daran liegt, dass ich im Moment eine Dissertation über dieses Thema schreibe (oder zumindest schreiben sollte, meistens lese ich nur irgendwelche belletristischen Bücher). Vielleicht liegt aber auch das eine so wie das andere daran, dass der Tod mich einfach interessiert. Wobei das, streng genommen, auch nicht richtig ist: Eigentlich ist es viel eher so, dass mich der Tod nicht interessiert, ja, eigentlich habe ich so wenig Interesse am Tod, dass ich ausdrücklich dafür plädieren möchte, ihn, zum Beispiel, völlig abzuschaffen. Dasselbe gilt auch für manche Bücher darüber.

Eins der schlechteren Bücher über den Tod, die ich kürzlich gelesen habe, ist „Interview mit dem Tod“ von Jürgen Domian, den wir aus der nach ihm benannten nächtlichen Radiotalkshow kennen, in der er uns gebetsmühlenartig (und mit leicht fanatischem Unterton) verklickert, alles sei okay, so lange es niemandem schade. Vielleicht habe ich meinen Konsum der Talkshow in den letzten Jahren, der eher aus voyeuristischer Neugier gegenüber den Problemen anderer Leute als aus Sympathien für den Moderator herrührt, etwas übertrieben; und vielleicht reagiere ich deswegen gereizt auf von Domian produziertes Gedankengut. Aber selbst, wenn das so sein sollte, schlecht genug ist das Buch, das eine bunte Mischung aus biographischen Notizen (in Jugend Hang zu religiösem Fanatismus, durch Nietzsche und Feuerbach davon geheilt, Vater gestorben), religiösem Pamphlet (pro Buddhismus) und politisch-ethischer Meinungsäußerung (pro Palliativmedizin, pro Sterbehilfe) darstellt, in jedem Fall.

Wie angesichts des Titels seines neuen Werks nicht überrascht, unternimmt Domian darin den ambitionierten Versuch eines fiktiven Interviews mit dem personifizierten Tod. Die Interview-Passagen, in denen der manchmal erschreckend naive Radiomoderator („Es gibt doch zum Beispiel den eindeutig guten Menschen – und den eindeutig bösen Menschen!“ (S. 125, der Tod widerspricht hier nicht)) dem Tod wenig originelle Fragen stellt, wechseln sich ab mit solchen Kapiteln, in denen Domian seine eigene Auseinandersetzung mit dem Tod (nicht mit seinem fiktiven Interviewpartnerclown, sondern mit dem echten) thematisiert.

Eins der besseren Bücher ist Julian Barnes' autobiographisches Buch „Nothing to be frightened of“ (deutsch „Nichts, was man fürchten müsste“). Auch Barnes reflektiert seine eigene Auseinandersetzung mit dem Tod. Diese fällt aber erstens deutlich differenzierter aus; zweitens gewährt sie eine Vielzahl an philosophischen und literarischen Einblicken in das Thema, die sowohl von beeindruckender gedanklicher Klarheit als auch von umfassendem literarischem Wissen zeugen. Nicht nur, dass diese Streifzüge wahrscheinlich für jeden Leser mit Todes-Interesse oder -Verachtung – also jedem, dem es nicht nur Angst macht, ein Buch über den Tod zu lesen – eine Bereicherung darstellen, wenn sie von Barnes kommen, sind sie auch noch lustig.

Der personifizierte Tod bei Domian ist leider kein bisschen humorvoll, sondern schwafelt durchweg unangenehm geschwollen daher. So beginnt das Interview beispielsweise mit den folgenden Worten: „Ich danke dir, Tod, dass du dir die Zeit nimmst, dich mit mir zu unterhalten.“ Darauf der Tod: „Für mich gibt es keine Zeit, aber ohne sie gäbe es mich nicht. Endet die Zeit, endet der Tod. Und Dank ist mir niemand schuldig. Ich tue nur, was zu tun nötig ist.“ (S. 12) Das klingt zwar gewollt tiefsinnig, aber informativ ist es leider nicht. Informationen sind aber das Mindeste, was ich vom Tod in einer solchen Situation erwarten würde. Wem die Information, dass man dem Tod nicht dankbar sein muss, irgendwie weiterhilft, der war mit seinen eigenen Überlegungen wohl noch nicht sehr weit gekommen.
Wenn ich den Tod zu einem Interview treffen würde, würde ich hoffen, dass er mehr zu bieten hat als ein paar sprachliche Spitzfindigkeiten – zumindest, wenn er nicht nur gekommen ist, um mich zu veralbern. Was aus literarischer Perspektive natürlich originell sein könnte, aber darum geht es Domian augenscheinlich nicht. Vielmehr ist der Tod ausdrücklich, wie er später selbst zugibt, gekommen, um nichts zu verraten: „Darf ich fragen, was du nicht weißt?“ Tod: „Fragen darfst du es – aber es gibt darauf keine Antwort. Man kann mit keinem Menschen über transzendente Geheimnisse sprechen. So, wie du mit keiner Ameise über Kants Kategorischen Imperativ reden kannst – selbst, wenn du es wirklich wollen würdest.“ (S. 124) Seufz.

Von solchen inhaltlichen Problemen (und es gäbe noch einige aufzuzählen) abgesehen erscheint mir die ganze Idee der Personifizierung des Todes in hohem Maße befremdlich, sofern es darum gehen soll, sich den großen existentiellen Fragen des menschlichen Lebens inhaltlich zu nähern und nicht, sagen wir, darum, ein spannendes oder lustiges Buch zu schreiben (oder einen guten Film zu machen, wie zum Beispiel Interview mit Joe Black) – das war offensichtlich nicht Domians Absicht. Durch die Vorstellung eines Personen-Todes werden die Dinge eher noch mehr verwirrt als geklärt. Wenn überhaupt irgendetwas als gesichert gelten kann, dann doch wohl dieses: der Tod ist nicht ein Jemand, der Tod ist ein Ereignis (oder vielleicht ein Zustand), und wenn es überhaupt jemanden gibt, den man dazu befragen könnte, dann kann das eigentlich nur Gott sein.

Ein Gott mit Humor beziehungsweise Sinn für Ironie ist eine der Möglichkeiten, die Barnes durchspielt, um sich das „Problem“ des Todes verständlich zu machen: Ein Experimentator-Gott, der die Menschen mit ihrem Wunsch nach Unsterblichkeit in eine Sterblichkeitskiste setzt wie Ratten in einen Käfig, deren potentielle Türen nach außen – die Wege in die Ewigkeit – sich durchweg als Attrappen erweisen. Leider (oder in diesem Fall zum Glück?) ist Gott, wenn es ihn gibt, nicht so oder irgendwie anders, weil wir uns vorstellen oder wünschen, dass er so oder so ist – wenn es ihn gibt, ist es ihm wahrscheinlich vollkommen schnuppe, wie sich irgendwer vorstellt, dass er sein könnte. Barnes stellt dazu fest: „Bei Umfragen zur religiösen Einstellung lautet eine verbreitete Antwort etwa so: ‚Ich gehe nicht zur Kirche, aber ich habe meine eigene Vorstellung von Gott.’ Auf solche Aussagen reagiere nun ich wie ein Philosoph. Sentimentaler Quatsch, rufe ich. Du hast vielleicht eine eigene Vorstellung von Gott, aber hat Gott auch eine eigene Vorstellung von dir? Das ist nämlich der springende Punkt.“ (S. 65)
Eine Textstelle, die ich gerne an Domian und seine allnächtlichen Anrufer weitergeben möchte. Vielleicht hören dann ja alle mal für ein paar Tage auf, ihre religiöse Individualität zu preisen und sich gegenseitig mit wirren metaphysischen Auffassungen zuzuquasseln – natürlich ist es erlaubt, sich „seine eigene Vorstellung“ von Gott (oder meinetwegen vom personifizierten Tod) zu machen, aber wozu soll das gut sein? Der Wahrheitsfindung dient es jedenfalls nicht.

Barnes, dessen Bruder Philosophieprofessor ist, erzählt zu Beginn seiner Ausführungen, wie sein Bruder ihn kritisiert habe dafür, dass er durch eine Formulierung wie „Mutter hätte sich gewünscht…“ seiner bereits verstorbenen Mutter posthum Wünsche zuschreibt, die sie zu diesem Zeitpunkt haben würde, würde sie noch leben. Das sei, so der Philosophenbruder, quasi doppelt verdächtig: Es sei nicht nur ohnehin fragewürdig, sich mit potentiellen, also nicht-tatsächlichen Wünschen anderer zu beschäftigen, sondern umso fragwürdiger, wenn dieser Jemand auch noch tot sei. (S. 14)
Mich hat das beim Lesen an meine Mutter erinnert, die erst vor ein paar Tagen sagte, dass es wiederum ihrer Mutter (meiner Großmutter) gefallen hätte, dass sie (meine Mutter) entgegen aller Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten immer noch in ihrem Haus (dem meiner Großmutter) lebt. Glücklicherweise (für meine Mutter) sagte sie (meine Mutter) gleich im Anschluss, dass sie ja zum Glück Überzeugungen habe, die es ihr ermöglichen, davon auszugehen, dass ihre Mutter (meine Großmutter) das doch noch irgendwie mitbekommt. Auf Umwegen vielleicht. „Über ein paar Ecken.“
Ich habe an dieser Stelle wohlweislich verschwiegen, dass ich schon mal einen Brief (an meine Großmutter) und sogar, noch früher, schon mal einen an meinen Großvater, mit dem ich nicht eine einzige Minute gleichzeitigen Lebens teile, auf dem Grab meiner Großeltern vergraben habe. Ich bin nicht sicher, ob dies tatsächlich in der gruselig-wirren Hoffnung geschah, die darin enthaltenen Botschaften kämen bei den Toten irgendwie an (wobei ich ebenfalls nicht sicher bin, ob ich als Adressaten eher die verwesenden Leichen oder immaterielle Seelen – in der Erde? – im Sinn hatte). Stattdessen habe ich, wie meine Mutter nicht anders erwartet hat, in meiner Eigenschaft als Philosophin lieber darauf hingewiesen, dass meine Mutter hier wider besseres Wissen eine unsinnige metaphysische Überzeugung vertritt.
Nichtsdestotrotz liegt mir der Gedankengang vom Schriftsteller Barnes in diesem Fall näher als der des Philosophen Barnes: Die Frage, was jemand, der jetzt tot ist, gewollt hätte, erscheint mir als eine Frage von Relevanz.

Auch bei diesem Thema hilft der Domian-Tod nicht weiter. In Bezug auf mehr oder weniger wirre metaphysische Auffassungen hat er jedoch auch einiges zu bieten. Gut, könnte man sagen, der Tod kann ja jetzt, wo man ihn schon mal bei sich sitzen hat, ein für alle mal klären, was die Wahrheit ist – leider wird nur allzu deutlich, dass es Domians eigene, wenig befriedigenden buddhistischen (?) Vorstellungen (er hat jetzt vermutlich seine ganz eigene Vorstellung von Gott) sind, die er seinem Gesprächspartner in den Mund legt. Ich jedenfalls betrachte es nicht als sichere Erkenntnis, dass, wie der Tod konstatiert, „das Vergangene bereits tot“ sei und „[d]as Zukünftige nichts weiter als eine Illusion.“ (S. 12) Domians Fazit zum Thema Religion fällt erwartungsgemäß eher uninspiriert aus: „Man glaubt daran – oder man lässt es sein. Darüber zu diskutieren ist sinnlos.“ (S. 101)

Ein paar ganz praktische Anweisungen gibt Domians Quassel-Tod allerdings doch: Als Trost im Falle verstorbener Angehöriger schlägt er „den Blick in die Blüte einer Rose“ oder „das Geräusch fallenden Schnees in der Stille“ (S. 86) vor. Im Trösten ist der Tod wohl nicht besonders gut. Aber wieso sollte er auch.

Julian Barnes: Nichts, was man fürchten müsste. Kiepenheuer & Witsch, 2010.
Jürgen Domian: Interview mit dem Tod. Gütersloher Verlagshaus, 2012.

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